Aber Schofield hörte nicht zu.
Er hockte auf den Fersen und blickte hinab in das halbkreisförmige Loch, das der Torpedo in den Eisberg geschnitten hatte.
Renshaw kam herüber und stellte sich hinter ihn.
»Worauf sehen Sie da?«
»Erlösung«, erwiderte Schofield. »Vielleicht.«
Renshaw folgte Schofields Blick hinab in das halbkreisförmige Loch im Eisberg, und er sah es sofort.
Dort, einige Meter die glatte, lotrechte Klippenwand hinab, eingebettet im Eis, sah Renshaw den deutlich zu erkennenden rechteckigen Umriss eines erstarrten Glasfensters.
Schofield verknotete ihre beiden Parkas zusammen und benutzte die beiden Jacken als Seil, ließ sich mit Renshaws Hilfe zu dem Fenster in der Eisklippe hinunter.
Schofield hing hoch über dem Wasser vor dem erstarrten Glasfenster. Er sah es sich genau an.
Es war eindeutig von Menschenhand gemacht.
Schofield stellte es sich so vor, dass der Feuerstoß des Torpedos die etwa zehn Meter Eis vor dem Fenster gelöst haben musste und es auf diese Weise freigelegt hatte. Das Fenster und das, woran es befestigt war, waren tief innerhalb des Eisbergs vergraben gewesen.
Schofield holte tief Atem. Dann trat er heftig zu, und das Fenster zersplitterte.
Hinter dem jetzt offenen Fenster erblickte er Dunkelheit, eine Art kleiner Höhle.
Schofield zog eine Taschenlampe aus seiner Hüfttasche und schwang sich, mit einem letzten Blick zu Renshaw, durch das Fenster hinein in den Bauch des Eisbergs.
Als erstes sah Schofield im Strahl seiner Taschenlampe die auf dem Kopf stehenden Worte:
HAPPY NEW YEAR 1969!
WELCOME TO LITTLE AMERICAIV!
Die Worte standen auf einer Art Fahne geschrieben.
Sie hing schlaff - und auf dem Kopf stehend - über der Höhle, in der Schofield jetzt stand.
Nur dass es keine Höhle war.
Es war irgendein Raum - ein kleiner, holzgetäfelter Raum, völlig unter dem Eis begraben.
Und alles stand auf dem Kopf. Der ganze Raum war falsch herum.
Es war ein seltsames Gefühl, dass alles auf dem Kopf stand. Schofield benötigte einige Sekunden, bis ihm klar wurde, dass er eigentlich auf der Decke des unterirdischen Raums stand.
Er blickte nach rechts. Dort zweigten offenbar weitere Räume von diesem hier ab...
»Hallo da unten!«, segelte Renshaws Stimme von draußen herein.
Schofield steckte den Kopf aus dem Fenster in der Eisklippe. »Hee, was ist los? Ich friere mir hier draußen die Eier ab«, sagte Renshaw.
»Haben Sie je von Little America IV gehört?«, fragte Schofield.
»Ja«, erwiderte Renshaw. »Es war damals in den sechziger Jahren eine unserer Forschungsstationen. Ist '69 ins Meer hinausgetrieben, als das Rosseisschelf einen Eisberg von neuntausend Quadratkilometern Größe gekalbt hat. Die Navy hat drei Monate danach gesucht, aber sie haben sie nie gefunden.«
»Nun, raten Sie mal«, meinte Schofield. »Wir haben sie gerade gefunden.«
Eingehüllt in drei dicke Wolldecken saß James Renshaw auf dem Fußboden des Hauptraums von Little America IV. Er rieb sich heftig die Hände und blies mit seinem warmen Atem darauf, während Schofield - noch immer in seinem durchgeweichten Arbeitsanzug - die anderen Räume der dunklen, auf dem Kopf stehenden Station durchwühlte. Keiner der beiden Männer wagte, eine der dreißig Jahre alten Konserven zu essen, die über den Fußboden verstreut lagen.
»Soweit ich mich erinnere, war Little America so etwas Ähnliches wie Wilkes«, meinte Renshaw. »Es war eine Station zum Erkunden von Ressourcen, ins Küsteneisschelf hinein gebaut. Sie waren hinter Ölvorkommen vor der Küste her, die im kontinentalen Eisschelf verborgen sein sollten. Sie haben Kollektoren bis zum Meeresgrund hinabgelassen, damit sie nachsehen, ob der Schlamm dort unten...«
»Warum steht alles auf dem Kopf?«, fragte Schofield vom nachten Raum her.
»Das ist einfach. Als dieser Eisberg gekalbt hat, muss er sich umgedreht haben.
»Der Eisberg hat sich umgedreht?«
»Soll vorkommen, wie man weiß«, erwiderte Renshaw. »Und wenn Sie mal darüber nachdenken, ergibt das Sinn. Ein Eisberg ist toplastig, wenn er vom Festland abbricht, weil alles Eis, das unter dem Wasser gewesen ist, über die Jahre hinweg langsam vom wärmeren Meerwasser erodiert worden ist. Ist Ihr Eisberg also nicht perfekt ausbalanciert, wenn er vom Festland wegbricht, kippt das ganze Ding um.«
Schofield suchte sich im Nachbarraum seinen Weg durch Haufen rostigen, umgedrehten Abfalls. Er trat um eine große, runde Kabeltrommel herum, die unbeholfen auf der Seite lag. Dann sah er etwas.
»Wie lange hat die Navy nach dieser Station gesucht, haben Sie gesagt?«, fragte Schofield.
»Etwa drei Monate.«
»Ist das eine lange Zeit für eine Suche nach einer verlorengegangenen Station gewesen?«
Renshaw im Hauptraum zuckte die Achseln. »Es ist länger als üblich gewesen. Weshalb?«
Schofield kam durch die Tür zurück. Er hielt einige metallische Gegenstände in Händen.
»Ich denke, unsere Jungs haben hier unten einige Sachen angestellt, die sie nicht hätten tun sollen«, sagte Schofield lächelnd.
Er hielt ein Stück weißer Kordel hoch. Für Renshaw sah sie aus wie Schnur, die mit weißem Pulver bedeckt worden war.
»Zündschnur«, sagte Schofield, während er die weiße, pulvrige Kordel in einer Schlinge um die Taille befestigte. »Sie wird zur Zündung von Sprengstoffen beim Nahkampf benutzt. Dieses pulvrige Zeug, das Sie da sehen, ist Magnesiumsulfid. Zündschnüre auf Magnesiumbasis brennen heiß und rasch - tatsächlich verbrennen sie so heiß, dass sie sauber durch Metall schneiden können. Gutes Zeug. Wir benutzen es heutzutage manchmal auch noch.
Und sehen Sie das hier«, Schofield hielt einen verrosteten, druckfesten Kanister hoch. »VX Giftgas. Und das hier...«, er hielt eine weitere Röhre hoch, »... Sarin.«
»Saringas?« fragte Renshaw. Sogar er wusste, was das war. Saringas war ein chemischer Kampfstoff. Renshaw fiel ein Vorfall in Japan ein, von 1995, als Terroristen einen Kanister mit Saringas in einer U-Bahnstation in Tokyo gezündet hatten. Panik war ausgebrochen. Mehrere Menschen waren ums Leben gekommen. »Sie hatten dieses Zeug in den sechziger Jahren?«, fragte er. »O ja.«
»Also halten Sie diese Station für eine Fabrik für chemische Kampfstoffe?«
»Ich glaube schon, ja.«
»Aber weswegen? Warum chemische Kampfstoffe in der Antarktis testen?«
»Zwei Gründe«, erwiderte Schofield. »Eins: zu Hause bewahren wir fast alle unsere Giftgaswaffen gekühlt auf, weil die meisten Giftgase bei höheren Temperaturen ihre Toxizität verlieren. Also ist es sinnvoll, die Tests in einer Umgebung durchzuführen, wo es das ganze Jahr über kalt ist.« »Und der zweite Grund?«
»Der zweite Grund ist wesentlich einfacher«, erwiderte Schofield und lächelte Renshaw an. »Niemand sieht zu.«
Schofield verschwand wieder im Nebenraum. »Auf jeden Fall«, sagte er, als er durch die Tür verschwand, »nutzt uns das alles gerade im Augenblick nicht sehr viel. Aber sie haben etwas anderes hier, das vielleicht nützlich sein kann. Ich bin sogar der Ansicht, dass uns dies schlicht und einfach wieder zurück ins Spiel bringen wird.«
»Und was ist das?«
»Das hier«, sagte Schofield, als er wieder auf der Schwelle erschien und ein verstaubtes Tauchgerät hinter sich herzog.
Schofield machte sich ans Werk, die dreißig Jahre alte Taucherausrüstung wieder in Schuss zu bringen. Renshaw war mit der Aufgabe betraut worden, die Atemgeräte zu säubern - die Mundstücke, die Ventile an den Luftschläuchen.
Die komprimierte Luft war das Hauptrisiko. Nach dreißigjähriger Aufbewahrung war dies ein Risiko, das einen tödlichen Ausgang nehmen konnte.
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
Schofield testete sie - er nahm einen tiefen Zug und sah Renshaw an. Als er nicht tot umfiel, erklärte er die Luft für in Ordnung.
Die beiden Männer arbeiteten etwa zwanzig Minuten lang an der Taucherausrüstung. Dann, als sie fast fertig waren, meinte Renshaw ruhig: »Haben Sie je Gelegenheit erhalten, einen Blick auf Bernie Olsons Leichnam zu werfen?«
Schofield sah zu Renshaw hinüber. Der kleine Wissenschaftler war über ein Paar Mundstücke gebeugt, die er mit Meerwasser auswusch.
»In der Tat, doch«, erwiderte Schofield leise.
»Was haben Sie gesehen?«, fragte Renshaw interessiert.
Schofield zögerte. »Mr. Olson hatte sich die eigene Zunge abgebissen.«
»Hmmm.«
»Die Kieferknochen waren auch fest geschlossen, und seine Augen waren heftig entzündet - rotgerändert, blutunterlaufen.«
Renshaw nickte. »Und was hat man Ihnen erzählt, das ihm zugestoßen wäre?«
»Sarah Hensleigh hat mir erzählt, Sie hätten ihn mit einer Subkutanspritze gestochen und ihm flüssigen Abflussreiniger in den Blutkreislauf injiziert.«
Renshaw nickte wissend. »Aha. Lieutenant, könnten Sie bitte einen Blick auf dieses Buch werfen?« Renshaw zog ein durchweichtes Buch aus der Brusttasche seines Parkas. Es war das dicke Buch, das er aus seinem Zimmer mitgenommen hatte, als sie die Station verlassen hatten.
Renshaw reichte es Schofield. Biotoxikologie und durch Gift hervorgerufene Erkrankungen.
»Lieutenant«, sagte Renshaw, »wenn Sie jemand mit Abflussreiniger vergiftet, bringt das Gift Ihren Herzschlag zum Erliegen, einfach so. Es gibt keinen Todeskampf. Sie sterben einfach. Kapitel 2.«
Schofield durchblätterte die durchweichten Seiten bis zum Kapitel 2. Er sah die Überschrift: Durch Gift hervorgerufener, augenblicklicher physiologischer Tod.
Er sah eine Liste dessen, was der Autor ›Bekannte Gifte‹ genannt hatte. Mitten auf der Liste sah Schofield ›Starke Reinigungsflüssigkeiten, Insektizide<.
»Der springende Punkt ist«, sagte Renshaw, »es gibt keine äußeren Anzeichen des Todes bei einem derartigen Gift. Ihr Herz hört auf zu schlagen, Ihr Körper hält einfach an.«
Renshaw hielt den Finger hoch. »Aber bei gewissen anderen Giften ist das nicht so«, sagte er. »Wie beispielsweise das Gift der Seeschlange.«
»Das Gift der Seeschlange?« fragte Schofield.
»Kapitel 9«, erwiderte Renshaw.
Schofield suchte es. Natürlich vorkommende Gifte - Meeresfauna.
»Suchen Sie unter Seeschlangen«, sagte Renshaw.
Schofield tat es. Er fand die Überschrift: Seeschlangen -Gifte, Symptome und Behandlung.
»Lesen Sie es«, sagte Renshaw.
Schofield tat es.
»Laut«, meinte Renshaw.
Schofield las: »Die gemeine Seeschlange (Enhydrina schistosa) besitzt ein Gift mit einer Toxizität, die dreimal so stark ist wie bei der Königskobra, der tödlichsten Landschlange. Ein Tropfen (0,03 ml) reicht aus, drei Menschen zu töten. Allgemeine Symptome einer Vergiftung durch die Seeschlange sind Schmerzen und Muskelversteifung, Anschwellen der Zunge, Lähmungserscheinungen, Sehverlust, heftige Entzündung der Augen und Zusammenziehen der Pupillen sowie, am bemerkenswertesten, Kieferstarre. Die Kieferstarre ist in der Tat in solchen Fällen so heftig, dass die Opfer einer Vergiftung durch die Seeschlange nicht selten...« Schofield unterbrach sich. »Lesen Sie«, sagte Renshaw leise. »... die eigene Zunge mit den Zähnen durchbeißen.« Schofield sah zu Renshaw auf.
Renshaw legte den Kopf zur Seite. »Sehe ich für Sie wie ein Mörder aus, Lieutenant?«
»Wer könnte denn sagen, dass Sie nicht Seeschlangengift in diese Subkutanspritze aufgezogen haben?«, konterte Schofield.
»Lieutenant«, erwiderte Renshaw, »auf der Eisstation Wilkes wird das Seeschlangengift im Biotoxinlabor aufbewahrt, das stets - stets - verschlossen ist. Nur wenige Leute haben Zutritt zu diesem Raum, und ich bin keiner davon.«
Schofield erinnerte sich an das Biotoxinlabor auf Deck B, erinnerte sich an das deutliche, aus drei Kreisen bestehende Warnzeichen an der Tür.
Merkwürdigerweise fiel Schofield noch etwas anderes ein.
Ihm fiel ein, wie Sarah Hensleigh ihm zuvor gesagt hatte: »Ehe das alles geschehen ist, habe ich mit Ben Austin im Biolab auf Deck B gearbeitet. Er hat an einem neuen Antidot für Enhydrina schistosa gearbeitet.« Schofield schüttelte den Gedanken beiseite. Nein. Unmöglich.
Er wandte sich Renshaw zu. »Wer hat also Ihrer Ansicht nach Bernie Olson umgebracht?«
»Nun, irgendjemand mit Zutritt zum Biotoxinlabor, natürlich«, erwiderte Renshaw. »Das konnte nur Ben Austin, Harry Cox oder Sarah Hensleigh bedeuten.«
Sarah Hensleigh.
»Warum sollte irgendeiner von ihnen Olson umbringen wollen?«, fragte Schofield.
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Renshaw. »Keine Ahnung.«
»Soweit Sie wissen, hatte keiner dieser Leute ein Motiv, Olson umzubringen?«
»Stimmt genau.«
»Aber Sie hatten ein Motiv«, meinte
Schofield. »Olson hat Ihnen Ihre Forschungsergebnisse
gestohlen.«
»Was mich zu so etwas wie der idealen Person macht, der man den Mord in die Schuhe schieben kann, stimmt's?«, fragte Renshaw.
»Aber wenn es wirklich jemand so drehen wollte«, sagte Schofield, »Ihnen den Mord in die Schuhe zu schieben, so hätte der Betreffende tatsächlich Abflussreiniger benutzt, um Olson umzubringen. Warum sich der Mühe unterziehen und Seeschlangengift benutzen?«
»Gutes Argument«, entgegnete Renshaw. »Gutes Argument. Aber wenn Sie dieses Buch lesen, finden Sie, dass Abflussreiniger eine 59%ige Sterblichkeitsrate hat. Seeschlangengift hat eine Sterblichkeitsrate von 98 %. Gleich, wer Olson umgebracht hat, er wollte sicherstellen, dass er starb. Deswegen haben sie das Seeschlangengift benutzt. Sie wollten nicht, dass er wiederbelebt werden konnte.«
Schofield schürzte nachdenklich die Lippen.
Daraufhin sagte er: »Erzählen Sie mir etwas von Sarah Hensleigh!«
»Was denn?«
»Sind Sie beide miteinander ausgekommen? Haben Sie sie gemocht, hat sie Sie gemocht?«
»Nein, nein und nein.«
»Warum haben Sie sie nicht gemocht?«, fragte Schofield.
»Sie wollen das wirklich wissen?«, Renshaw seufzte tief. Er blickte beiseite. »Weil sie meinen besten Freund geheiratet hat - eigentlich war er auch mein Chef -, und sie hat ihn nicht geliebt.«
»Wer ist das gewesen?« fragte Schofield.
»Ein Bursche namens Brian Hensleigh. Er ist vor seinem Tod Leiter der geophysikalischen Abteilung in Harvard gewesen.«
»Er ist bei einem Autounfall umgekommen, nicht wahr?«
»Stimmt genau«, erwiderte Renshaw. »Ein betrunkener Fahrer ist über die Bordsteinkante weg und hat ihn getötet.«
Renshaw blickte zu Schofield auf. »Woher wissen Sie das?«
»Kirsty hat's mir gesagt.«
»Kirsty hat's Ihnen gesagt.« Renshaw nickte langsam. »Sie ist ein gutes Kind, Lieutenant. Hat sie Ihnen gesagt, dass sie mein Patenkind ist?« »Nein.«
»Bei ihrer Geburt hat Brian mich gebeten, ihr Pate zu sein, wissen Sie, falls ihm je etwas zustoßen würde. Ihre Mutter, Mary-Anne, ist an Krebs gestorben, da war Kirsty sieben.« »Warten Sie mal eine Sekunde«, sagte Schofield. »Kirstys Mutter ist gestorben, da war sie sieben?«
»Ja.«
»Also ist Sarah Hensleigh nicht Kirstys Mutter?«
»Stimmt genau«, entgegnete Renshaw. »Sarah Hensleigh war Brians zweite Frau. Sarah Hensleigh ist Kirstys Stiefmutter.«
Plötzlich klärten sich die Dinge für Schofield. Weswegen Kirsty kaum je ein Wort mit Sarah wechselte. Weswegen sie sich in sich selbst zurückzog, wann immer sie in Sarahs Nähe war. Die natürliche Reaktion eines Kinds auf eine Stiefmutter, die es nicht mochte.
»Ich weiß nicht, weshalb Brian sie geheiratet hat«, sagte Renshaw. »Ich weiß, er war einsam und, nun ja, Sarah ist attraktiv und sie hat ihm ziemlich viel Aufmerksamkeit gewidmet. Aber sie war ehrgeizig. Junge, war sie ehrgeizig! Man konnte es in ihren Augen erkennen. Sie wollte einfach nur seinen Namen, wollte die Leute treffen, mit denen er zusammenarbeitete. Sie hat nicht ihn gewollt. Und als letztes hat sie sein Kind gewollt.«
Renshaw lachte traurig. »Und dann ist dieser betrunkene Fahrer über die Bordsteinkante gerutscht und hat Brian getötet und auf einen Rutsch hat Sarah Brian verloren und das Kind am Hals gehabt, das sie niemals hatte haben wollen.«
»Warum mag sie Sie nicht?«, fragte Schofield.
Renshaw lachte erneut. »Weil ich Brian gesagt habe, er solle sie nicht heiraten.«
Schofield schüttelte den Kopf. Offensichtlich war eine Menge mehr vor seiner und der Ankunft der Marines in der Eisstation vorgegangen, als ihnen ursprünglich aufgefallen war.
»Sind Sie fertig mit diesen Mundstücken?«, fragte Schofield. »Alles fertig.«
»Dieses Gespräch muss seine Fortsetzung finden«, meinte Schofield, als er aufstand und sich daran machte, einen der Lufttanks auf die Schulter zu setzen.
»Warten Sie mal eine Sekunde«, sagte Renshaw, ebenfalls aufstehend. »Sie gehen jetzt wieder da zurück? Was ist, wenn Sie währenddessen getötet werden? Dann wird niemand übrig sein, der meine Geschichte glaubt.«
»Wer hat gesagt, dass ich Ihnen die Geschichte glaube?«, fragte Schofield.
»Sie haben sie geglaubt. Ich weiß, dass Sie sie geglaubt haben.«
»Dann kommen Sie wohl besser mit. Passen Sie gut auf, dass ich nicht getötet werde«, sagte Schofield, als er zu dem Fenster im Eisberg hinüberging und hinaussah.
Renshaw wurde blass. »Okay, okay, gehen wir das Ganze mal eine Sekunde lang langsam an, ja? Haben Sie je einen Gedanken an die Tatsache verschwendet, dass da draußen ein Schwärm Killerwale ist? Ganz zu schweigen von irgendeiner Art von Seehunden, die Killerwale killt...«
Aber Schofield hörte nicht zu. Er starrte einfach zum Fenster im Eis hinaus. In der Ferne, Richtung Südwesten - auf der Spitze der nächstgelegenen Eisklippen - sah er ein schwaches, aus- und angehendes grünes Blitzlicht. Blitz-Blitz. Blitz-Blitz. Es war das grüne Positionslicht auf der Spitze der Funkantenne der Eisstation Wilkes.
»Mr. Renshaw, ich gehe dahin zurück... mit Ihnen oder ohne Sie, wie Sie wollen.« Schofield wandte sich ihm zu.
»Kommen Sie. Es ist an der Zeit, Eisstation Wilkes zurück zu erobern.«
Eingehüllt in zwei Schichten viel zu großer Kälteschutzanzüge aus den 60er Jahren schwammen Schofield und Renshaw durch die eisige Stille. Sie atmeten mit Hilfe ihrer dreißig Jahre alten Taucherausrüstung.
Beide hatten sich die gleiche Länge eines Drahtseils um die Hüfte geschlungen - ein Seil, das sich bis zu der großen zylindrischen Kabeltrommel innerhalb von Little America IV zurück erstreckte, etwa einen Kilometer nordöstlich der Eisstation Wilkes. Es war eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass einer von beiden verlorenging oder vom anderen getrennt wurde und zurück zur Station schwimmen müs-ste.
Das Wasser um sie her wurde kristallklar, während sie unter dem Eisschelf der Küste schwammen, hinein in einen Wald aus gezackten Eisstalaktiten.
Schofields Absicht war, unter dem Eisschelf her zu schwimmen - je nach dem, wie tief es reichte - und innerhalb der Eisstation Wilkes wieder hochzukommen. Draußen hatte er die Richtung anhand der Position des grünen Positionslichts auf der Funkantenne der Station gepeilt. Schofield glaubte, wenn es ihm und Renshaw gelänge, so im allgemeinen in Richtung auf die Positionslampe zu schwimmen, sobald sie unter das Eisschelf getaucht wären, könnten sie schließlich den Tümpel an der Basis der Station ausmachen.
Schofield und Renshaw schwammen in einer Welt aus Weiß. Geisterhaft weiße Eisformationen - wie umgekehrte Berggipfel - erstreckten sich fast einhundertfünfzig Meter in die Tiefe.
Schofield runzelte die Stirn unter seiner Tauchermaske. Sie müssten ganz schön weit hinab, ehe sie wieder innerhalb der Station auftauchen könnten.
Schofield und Renshaw schwammen an einer der gewaltigen Eisformationen entlang hinunter. Durch seine Maske konnte Schofield lediglich eine Wand aus festem weißen Eis erkennen.
Nach einer Weile erreichten sie den tiefsten Punkt der Eisformation - den zugespitzten ›Gipfel‹ des umgekehrten Bergs. Schofield schwamm langsam unter dem Gipfel durch, und die weiße Wand glitt ihm aus dem Blickfeld...
... und er sah sie.
Schofields Herz hätte beinahe ausgesetzt.
Sie hing einfach dort im Wasser vor ihm an ihrem Winschkabel und sie hatte ihre langsame Reise zurück nach oben zur Station angetreten.
Die Taucherglocke.
Mit Ziel zurück zur Station.
Und dann begriff Schofield, was das zu bedeuten hatte.
Die Briten hatten bereits ein Team zur Erkundung der Höhle hinabgeschickt.
Schofield wünschte sich bei allen Teufeln, dass seine Marines unten in der Höhle sich bereit hielten.
Was ihn und Renshaw betraf, so müssten sie in diese Taucherglocke gelangen. Es war eine Freifahrt hinauf zur Eisstation Wilkes, die sich Schofield nicht entgehen lassen wollte.
Schofield fuhr im Wasser herum und gab Renshaw ein Zeichen. Er sah den kleinen Wissenschaftler hinter sich unter dem umgekehrten Berggipfel hindurchschwimmen. Er bedeutete Renshaw, ein wenig rascher zu werden, und die beiden Männer eilten durch das Wasser auf die Taucherglocke zu.
»Wie viele sind dort unten?« fragte Barnaby leise.
Book Riley sagte kein Wort.
Book war auf den Knien, die Hände hinter dem Rücken gefesselt. Er war unten auf Deck E, neben dem Tümpel. Blut strömte ihm aus dem Mund. Das linke Auge war halb geschlossen und angeschwollen. Nachdem er mit Kirsty von dem dahinjagenden Hovercraft gestürzt war, war Book nach Wilkes zurückgebracht worden. Nach seinem Eintreffen in der Station war er zu einer Gegenüberstellung mit Barnaby hinab nach Deck E gebracht worden.
»Mr. Nero«, sagte Barnaby.
Der große SAS-Mann namens Nero schlug Book hart ins Gesicht. Book fiel aufs Deck.
»Wie viele?«, fragte Barnaby. Er hielt Books Maghook in der Hand.
»Keiner!«, schrie Book. »Da unten ist
niemand. Wir hatten nie eine Chance, jemanden hinab zu
schicken.«
»Oh, wirklich?«, meinte Barnaby. Er blickte nachdenklich auf den Maghook in seinen Händen. »Mr. Riley, mir fällt es sehr schwer zu glauben, dass ein Kommandeur vom Kaliber Scarecrows sich nicht gleich an die Aufgabe machen würde, ein Schwadron in die Höhle hinabzuschicken, und zwar als allererstes, direkt nach seiner Ankunft.«
»Warum fragen Sie dann nicht ihn?«
»Sagen Sie mir die Wahrheit, Mr. Riley, oder ich verliere sehr bald die Geduld und verfütterte Sie an die Löwen.«
»Hier unten gibt's keine«, meinte Book.
»Okay«, sagte Barnaby und wandte sich abrupt Snake zu. »Mr. Kaplan«, sagte er. »Sagt Mr. Riley mir die Wahrheit?«
Book sah scharf zu Snake auf.
»Mr. Kaplan«, sagte Barnaby zu Snake, »wenn Mr. Riley mich anlügt, werde ich ihn töten. Wenn Sie mich anlügen, werde ich Sie töten.«
Book blickte mit großen, bittenden Augen zu Snake auf.
Snake ergriff das Wort. »Er lügt. Es sind vier Leute dort unten. Drei Marines, eine Zivilistin.«
»Du Schweinehund!«, meinte Book zu Snake.
»Mr. Nero«, sagte Barnaby und warf Nero Books Maghook zu.
»Knüpfen Sie ihn auf!«
Schofield und Renshaw tauchten gemeinsam innerhalb der langsam aufsteigenden Taucherglocke auf.
Sie stiegen aus dem Wasser und stellten sich auf das Metalldeck, das den kleinen Wassertümpel an der Basis der kugelförmigen Taucherglocke umgab.
Nach Atem ringend nahm Renshaw sein Mundstück ab. Schofield überprüfte das Innere der leeren Taucherglocke, suchte nach Waffen, suchte nach irgendetwas^
Er entdeckte einen digitalen Tiefenmesser an der Wand gegenüber. Er tickte rückwärts, während die Taucherglocke aufstieg. 120 Meter. 119 Meter. 118 Meter.
»Aha«, sagte Renshaw von der anderen Seite der Taucherglocke aus.
Schofield drehte sich um. Renshaw stand vor einem kleinen Fernsehbildschirm, der hoch droben, nahe der Decke, an der Wand angebracht war. Renshaw schaltete ihn ein. »Das habe ich völlig vergessen«, meinte er.
»Was ist das?«, fragte Schofield.
»Ein weiteres von den Spielzeugen des alten Carmine Yaeger. Sie erinnern sich an den alten Burschen, von dem ich Ihnen schon einmal erzählt habe, den Burschen, der die ganze Zeit über die Wale beobachtete. Erinnern Sie sich daran, dass ich Ihnen erzählt habe, dass er sie manchmal aus dem Innern der Taucherglocke beobachtet hat? Nun, dieser Monitor ist eine weitere seiner Videoüberwachungsanlagen des Tümpels der Station. Yeager hatte
ihn so installiert, dass er die Oberfläche des Tümpels überwachen konnte, während er sich unter Wasser in der Taucherglocke aufhielt.«
Schofield blickte zu dem kleinen Schwarzweiß-Monitor auf.
Auf dem Bildschirm sah er denselben Ausschnitt auf Deck E, den er schon in Renshaws Zimmer gesehen hatte. Der Blick von der Kamera auf der Unterseite der einziehbaren Brücke von Deck C, die direkt hinab auf Deck E blickte.
Schofield erstarrte.
Er sah Menschen auf dem Bildschirm.
SAS-Soldaten mit Gewehren. Snake noch immer mit Handschellen an den Pfahl gefesselt. Und Trevor Barnaby, der langsam das Deck E umschritt.
Und da war noch eine weitere Person.
Dort auf dem Deck vor Barnaby lag mit gefesselten Füßen Book Riley.
»Also gut, zieht ihn hoch«, sagte Barnaby, sobald Nero das Kabel des Maghooks um Books Fußknöchel befestigt hatte.
Jemand anderes hatte bereits das Seil des Maghooks ausgerollt und den Werfer über die einziehbare Brücke auf Deck C geworfen, wodurch er einen flaschenzugähnlichen Mechanismus hergestellt hatte.
Nero nahm den Werfer von einem der anderen britischen Soldaten und klemmte seinen Griff zwischen zwei Sprossen der Sprossenleiter zwischen Deck E und Deck D. Daraufhin drückte er den schwarzen Knopf am Werfer, der das Seil einholte.
Dank des Flaschenzugmechanismus - das Seil spannte sich fest über die Brücke auf Deck C - wurde Book plötzlich an den Fußknöcheln vom Deck gehoben. Die Hände waren noch immer hinter dem Rücken gefesselt. Er schwang über den Tümpel hinaus und baumelte hilflos - kopfunter - über dem Wasser.
»Was zum Teufel tun die da?«, fragte Renshaw, während er und Schofield auf den Schwarzweißbildschirm blickten.
Auf dem Bildschirm sahen sie Book direkt über sich baumeln, der an seinem eigenen Maghook über dem Wasser hing.
In diesem Augenblick schüttelte sich die Taucherglocke leicht, und Schofield packte die Wand, um das Gleichgewicht zu wahren.
»Was war das?«, fragte Renshaw rasch.
Schofield brauchte ihm keine Antwort zu geben.
Die Antwort lag gleich draußen vor den Fenstern der langsam aufsteigenden Taucherglocke.
Mehrere dunkle Gestalten glitten im Wasser rings um die Taucherglocke nach oben, deren deutlich erkennbare schwarzweiße Umrisse nur allzu vertraut waren.
Der Schwärm Killerwale.
Sie waren auf dem Weg zur Station.
Die erste Rückenflosse stach durch die Wasseroberfläche und ein Gemurmel durchlief die etwa zwanzig SAS-Soldaten, die um den Tümpel auf Deck E versammelt waren.
Book baumelte noch immer kopfunter über dem Tümpel. Er sah ihn gleichfalls: den gewaltigen schwarzen Umriss eines Killerwals, der langsam durch das Wasser unter ihm glitt. Book wand sich hin und her, aber es war zwecklos - die Hände waren fest auf dem Rücken gefesselt, die Füße fest gebunden. Seine Hundemarke rutschte ihm über den Kopf. Wenige Sekunden später fiel sie ihm vom Kinn, platschte in das Wasser und versank rasch.